Martin Amanshauser

Nicht viel Verkehr, viele Spatzen.

Im Dylan-Thomas-Geburtshaus in Swansea ist die Zeit absichtlich stehen geblieben. Das Dichterhaus wurde zum Museum – eines im besten Sinne des Wortes, ein begehbares, lebendiges, ohne jede Musealität.

Es handelt sich um eine ganz normale Doppelhaushälfte mit schmuckloser Fassade in Uplands, einem guten, hochgelegenen Viertel von Swansea – außergewöhnlich wäre höchstens, dass der Bau am steilsten Stück des Cwmdonkin Drive steht. „Victorian upper working class“ nannte man das vor hundert Jahren mit britischem Understatement. Ein Schild gibt bekannt, dass hier „ein Mann des Wortes“ geboren wurde. Das verhaltene Pathos wirkt bescheiden für das Geburtshaus eines der letzten authentischen Genies des 20. Jahrhunderts. Dylan Thomas, Lyrikstar im Nachkriegsengland, hat den Geniekult sowohl bezweifelt als auch benötigt. Er nannte sich selbst, mit jenem Hauch von Ironie, der das Selbstbewusstsein sowohl präsentiert als auch persifliert, schon früh den „Rimbaud vom Cwmdonkin Drive“. Dieser walisische Rimbaud kam am 27. Oktober 1914 im front bedroom zur Welt, der später Gästen und Besuchern vorbehalten sein sollte. Die Familie Thomas hatte die Immobilie erst wenige Wochen vorher erworben.

„Oben am Hügel“, beschreibt er selbst den Schauplatz seiner Jugend in einem Brief an eine Freundin, „ein kleines, nicht besonders gut gestrichenes, torloses Haus. Großes Zimmer, kleines Zimmer; Schreibstube, Küche. Vier Schlafzimmer, WC, Bad. Hinter dem Haus ausreichend Platz für einen Waschkobel, eine Wäscheleine, einen Liegestuhl und drei Spatzen. Privatschule am Feld gegenüber. Nettes Feld, netter Tennisplatz. Sehr nett, sehr respektabel. Nicht viel Verkehr. Viele Spatzen.“ Das nebenbei hingeworfene „vier Schlafzimmer“ zeugt von den reichlich bürgerlichen Dimensionen, die die Jugend von Dylan Thomas prägten. Sein Vater, ambitionierter Lehrer und Schuldirektor an der Swansea Grammar School, seine Mutter, eine herzliche, leicht tyrannische Frau, und die um acht Jahre ältere eifersüchtige Schwester Nancy, das waren die übrigen Bewohner der etwa 200 Quadratmeter, die jüngst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind – durch eine glückliche Fügung nicht als klassisches Museum, sondern als lebendiges Gebilde, das darauf wartet, von kurz- oder mittelfristigen Mietern bewohnt und benutzt zu werden. Die Stufen knarren, die schweren Bodenläufer sammeln jetzt wieder den kompakten Staub, die Stimmung im Dylan-Haus ist konzentriert, merkwürdig, manchmal unheimlich.

Die Neueröffnung geht auf die Idee des Ehepaars Haden zurück, die die heruntergekommene Immobilie für den Zeitraum von dreißig Jahren geleast und in den Urzustand gebracht haben. „Die Originaleinrichtung ist natürlich verschwunden“, erzählt Ann, „aber wir wollen ausschließlich Gegenstände hineinstellen, die in die Zeit passen.“ Das ist gelungen: Das Dylan-Thomas-Haus verströmt die Behaglichkeit einer versunkenen Epoche, wie sie auf uns heute fast unheimlich wirkt. Kein Telefon, keine modernen Küchengeräte, und natürlich kein TV. Man meint, die Geister der einstigen Bewohner spüren zu können, wenn Anne Haden einen am Abend allein lässt: „Sie können schlafen, wo Sie wollen, im front bedroom, oder im Schlafzimmer der Eltern – aber selbstverständlich auch in Dylans kleiner Kammer.“

Bei ihrer Erforschung der Hausgeschichte stießen die Hadens vor drei Jahren auf eine 93-jährige Dame, das frühere Dienstmädchen Emily, etwas jünger als der Dichter. Die Dame legt noch heute Wert darauf, dass niemand schlecht über Dylan Thomas spricht. „Er schrieb immer Wörter auf Zetteln, und die warf er dann auf den Boden“, erzählte sie den Hadens. Nebenbei lieferte sie aber die Informationen, welche Möbelstücke in den Zwanziger Jahren an welcher Stelle gestanden hatten, und erinnerte sich an die Originalfarben der Türen und Holzwände.

Die Hadens erwarben viktorianische Möbel, aber nicht die spektakulär teuren, sondern leistbare aus den letzten Jahrzehnten vor dem Großen Krieg – ganz wie die Familie Thomas. Jahrelang trieben sich die Hadens auf Auktionen, Charity Sales oder Flohmärkten herum, und kauften Einzelstücke wie die imposante „Grandfather Clock“ aus dem Jahr 1840, hergestellt von einer Firma aus der High Street, Swansea. Diese Standuhr schlägt heute in der Lounge, dem vorderen Repräsentationszimmer, laut vernehmlich jede gespenstische Stunde ein.

„Zum Glück war niemand der späteren Bewohner des Hauses so wohlhabend“, setzt Mrs. Haden fort, „dass er grundlegende Veränderungen vornahm. Die Kamine kamen unter Verbauungen zum Vorschein, die Tapeten konnte man entfernen, und viele Holzböden waren einfach unter Plastik- oder Teppichbelägen verschwunden.“ Aber aus welchem Grund tut man sich das alles an? Anne Haden ist weder dumm noch naiv, natürlich stellt sie sich nicht als reine Wohltäterin dar – „Es schien uns eine gute Business-Idee zu sein, und gleichzeitig ehren wir damit das Andenken von Dylan Thomas.“

5 Cwmdonkin Drive wurde im Jahr 1914 von einem Architekten namens W.J. Harding errichtet, der Bauplan glich jenem der Nebenhäuser. Als es in jenem Sommer, noch unfertig, von der Familie Thomas bezogen wurde, brach der Erste Weltkrieg aus. In einem Hörspiel beschäftigt sich Dylan Thomas mit seiner Kindheit: Er sei in einer großen Hafenstadt in Wales zu Beginn des Großen Kriegs geboren worden: „Hinter diesem Wales lag England, das war London, und dann noch das Land, das die Front hieß, aus dem viele unserer Nachbarn nie mehr zurückkamen. Es war ein Land, in das nur junge Männer reisten. Damals war die einzige Front, die ich kannte, die kleine Lobby vor der Eingangstüre unseres Hauses. Ich verstand nicht, warum so viele Leute niemals von dort zurückkehrten …“

Der Dichter, der sich mit 39 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Ruhms, in New York zu Tode saufen sollte, hatte zwei Drittel seines Gesamtwerks am Cwmdonkin Drive geschrieben. „Mein eigenes Zimmer ist ein kleines renoviertes Schlafzimmer. Wenig Licht. Harter Sessel. Heißwasserrohre ganz nahe. Gurgeln immer. Macht einen wahnsinnig. Durch das Fenster Blick auf ein nettes Stück Mauer. Hübscher Park irgendwo dahinter. Das Meer eine halbe Meile entfernt. Das Irrenhaus eine Meile entfernt.“

Dylan Thomas bewohnte die Kammer die ersten zwanzig Jahre seines Lebens, und auch während seiner London-Zeit zwischen 1934 und 1937 benützte er sie als Rückzugsgebiet und Schreiboase. Damals mit Gaslicht und ohne Strom, hat sie heute eine Deckenlampe, die per Hängekabel ausgeschaltet werden kann. Ein dünner Mensch kann sich in ihr gerade einmal umdrehen. „In meinem dreckigen Schlafzimmer“, schrieb Dylan später, „umgeben von Büchern und Papieren, voll vom ungesunden Rauch des billigen Tabaks, sitze und schreibe ich. Draußen scheint eine wunderbare Wintersonne und neben mir scheint ein Ölofen wie ein Parhelion … die heißen Rohre fluchen mich an, und obwohl der Ofen so nahe steht, sind meine Hände eiskalt.“

Die Hadens fanden eine gänzende Quellenlage vor. Fast jedes Familienmitglied und die meisten Freunde hatten irgendwann ein Buch über Dylan Thomas geschrieben. Das ausdrucksstärkste gelang Caitlin Thomas, der Ehefrau von Dylan, die in Trinkgewohnheiten und Entschlossenheit dem Dichter in nichts nachstand, mit ihrer Autobiographie „Double drink story“.

Caitlins scharfer Blick trifft nicht nur Dylan und sich selbst, sondern auch seine Eltern. Die Mutter, „typische walisische Dauerrednerin und im Grunde sehr dumme Frau (…) „konnte an keiner Fläche vorbeigehen, ohne sie staubzuwischen“ und der Vater D.J. sei „ein düsterer Mann“ gewesen, „der unglücklichste, dem ich je begegnet bin.“ Zwar ein „vollkommener Gentleman“, aber unterkühlt und distanziert. Mit 26 sei er kahlköpfig geworden, daher habe er immer einen Hut getragen, auch während der Mahlzeiten und überall im Haus. Aus früheren Jahren sei die Geschichte überliefert, dass er gegenüber im Cwmdonkin Park auf seine eigene Ausnüchterung oder die Bettruhe seiner Frau wartete.

Der beeindruckendste Raum ist D.J.´s Studierzimmer. „Die Nikotinspuren an der Decke“, erzählt Anne Haden, „haben uns gleich darauf gebracht, wo sein Schreibtisch gestanden haben muss.“ Gleich daneben befindet sich der eigene Ausgang in den Hinterhof – von hier aus flüchtete D.J. über die Wiesen ins Pub. Der steile Cwmdonkin Drive führt fast zwangsläufig zum Uplands Hotel (heute Uplands Tavern), wo D.J. und auch Dylan (der allerdings meist, wenn sein Vater nicht dort war) regelmäßig beim Bier und Ale landeten.

Danach folgten die großen Kater, die von der Mutter als „Grippe“ bezeichnet wurden, zu deren Heilung sie dem Sohn das berühmte „Brot in Milch mit Salz“ ans Bett brachte. „Auch ich musste es ihm während unserer ganzen Ehe verabreichen“, verriet Caitlin Thomas, die immer beobachtete, wie „ungeheuer gereizt“ Dylan in Anwesenheit der Mutter war, „er floh, sobald es ihm irgendwie möglich war, in das nächste Pub.“

1937 ging der Vater in Pension; die Schwester hatte bereits geheiratet und Dylan war außer Haus. Nun lag es nahe, 5 Cwmdonkin Drive durch etwas Kleineres zu ersetzen. Die Eltern zogen in die Vorstadt Bishopston und vermieteten das Haus an einen befreundeten Musiklehrer, der es schließlich im Jahr 1943 um 500.000 Pfund kaufte, also ungefähr zu jenem Preis, zu dem es 1914 erstanden worden war. Dessen Familie behielt es bis in die Achtzigerjahre, ehe es als Studentenwohnung und Bed&Breakfast herhalten musste; der Verfall war im Gange.

Der 27. Oktober 2008 war der 94. Geburtstag von Dylan Thomas. Die Hadens eröffneten in Anwesenheit der mittlerweile verstorbenen Dylan-Tochter Aeronwy das Gästehaus an diesem Tag ganz so, als wäre 1914. Eine Zeitung vom Originaltag liegt seitdem jeweils im Studierzimmer auf, „jetzt haben wir sozusagen das Jahr 1915“, erklärt Ann Haden, „der Weltkrieg schreitet voran.“

Das Projekt schreitet mit. Wer im Dylan-Thomas-Haus übernachtet, kann sich nie sicher sein, ob draußen tatsächlich das 21. Jahrhundert angebrochen ist. Durch die Fenster im front bedroom leuchten noch immer die Farben des Cwmdonkin Parks, und bald werden Bewohner und Besucher vermutlich jenen kalten Winter erleben können, von dem sich der junge Dylan Thomas niemals richtig merken konnte, „ob es sechs Tage und sechs Nächte schneite als ich zwölf war, oder zwölf Tage und zwölf Nächte schneite, als ich sechs war.“

Dass man heute im übertragenen Sinn im Bett des „Rimbaud vom Cwmdonkin Drive“ schlafen kann, ist ebenso wie die behutsame Renovierung ein unglaublicher Glücksfall. Die wenigen Stilbrüche, die sich die Hadens erlaubten, sind durchaus gewollt. An der Wand von Dylans Kammer steht in geschwungener Schrift ein Zitat des Dichters: „Ich drehte die Gaslampe aus und ging ins Bett. Ich sagte ein paar Worte zu der nahen und heiligen Dunkelheit, und dann schlief ich ein.“

Dylan-Thomas-Geburtshaus:

5 Cwmdonkin Drive, Swansea, Wales, UK.

Anne and Geoff Haden, www.5cwmdonkindrive.com, info@5cwmdonkindrive.com, Telefon +44(0)1792 405331, Postkontakt: Penlan Cottage, Westport Avenue, Mayals, Swansea, SA3 5AR, Wales, UK

Anreise:

Von Deutschland aus gibt es keine Direktflüge nach Cardiff. Günstige Routen wären über Amsterdam mit KLM bzw. via London (alle Flughäfen) mit BA oder LH.

Kleinere Flughäfen in der Region wie Bristol oder Liverpool, werden Low-Cost-Airlines (easyJet) angeflogen (allerdings nicht von allen deutschen Städten).

Reise-Info Wales:

www.visitwales.de oder www.visitbritain.de